Praxistest: Kia EV6 – Haben Sie den schon bei Nacht gesehen?

Und damit ist keineswegs gemeint, dass er derart gestaltet ist, dass man ihn verstecken müsste. Ganz im Gegenteil: Gerade in der Nacht kommt seine Lichtsignatur, die nicht nur schön aussieht, sondern auch für eine optimale Beleuchtung und Ausleuchtung der Fahrbahn sorgt, perfekt zur Geltung. Auch, wenn sein Design polarisiert (von „Elektro-Panzer“ bis „sieht vorne aus wie ein Porsche“ reichten da die Wortmeldungen), finden wir es sehr gelungen: Denn ein Hingucker ist der EV6 allemal.

Sportlich und muskulös

Das hat er nicht zuletzt seinem muskulösen und unverwechselbaren Auftritt zu verdanken. Die vielen, an einander gereihten LEDs erstrecken sich am Heck in einer geschwungenen Linie vom hinteren Radlauf über den Kofferraum zur anderen Seite und sorgen so für Kias so genannten „Piano-Look-Effekt“. Das Dach des EV6 folgt einer geraden, sportlichen Linie und schließt hinten mit einem Wing-Type-Dachspoiler ab. Dieser dient nicht nur dazu, das Außenkleid optisch aufzuwerten, sondern verbessert auch die Aerodynamik und macht das Fahren noch effizienter.

Falls doch mal der Saft ausgehen sollte, kann es sein, den „Tankdeckel“ länger als gewohnt suchen zu müssen: Denn auch dieser ist so perfekt in die Linienführung integriert, dass man ihn (fast) nicht sieht. Gleiches gilt für die automatischen „Flush-Handle“-Türgriffe, die sich so lange verstecken, bis man sich dem Auto nähert. Leider fühlt sich das Öffnen etwas komisch (im Sinne von nicht ergonomisch) an, aber vielleicht sind wir Türgriffe dieser Art einfach noch nicht gewöhnt?

Futuristisch, aber stimmig

Ziemlich ungewöhnlich wirkt auch der Innenraum des EV6. Markant sind hier zwei 12,3 Zoll große Panorama Dual Curved Displays, die gestochen scharf zu jeder Tages- und Nachtzeit exakt ablesbar sind. Wichtige Funktionen, wie die Steuerung der Klimaanlage oder der Lautstärke, sind nicht in Untermenüs versteckt, sondern in einem wechselnden Menüband unter dem mittig platzierten Bildschirm. Dieser zeigt auch die Navigation bzw. das Bild der Kamera an. Positiv hervorzuheben ist auch die Sprachsteuerung, die über eine Taste am Lenkrad angewählt werden kann: Egal, ob wir damit Radio oder Navi bedienen wollten: Es funktionierte immer problemlos.

Ebenso am Lenkrad angebracht sind neben Schaltpaddels (inkl. Wahl der Rekuperationsstufe) auch die unterschiedlichen Fahrmodi (drei zur Auswahl). Wer den Start-/Stopp-Knopf sucht, muss sich etwas umgewöhnen. Dieser ist zwar rechts vom Lenkrad, aber in einer freischwebenden Mittelkonsole positioniert, die darunter ein großes Ablagefach freigibt. Oben wird der Platz für den Wählhebel der Automatik, eine induktive Ladeschale fürs Smartphone und am vorderen Ende für Lenkradheizung sowie Sitzlüftung und -heizung verwendet. Doch Vorsicht: Wer sein Handgelenk für die Anwahl des wechselnden Menübandes hier ablegt, bekommt entweder heiße Hände (Lenkradheizung) oder einen gekühlten Sitz – die Berührungsempfindlichkeit ist enorm hoch.

Entspanntes Fahren?

Sehr hoch ist auch die Sitzposition hinterm Volant. Dadurch kommt einem auch die Sonnenblende beim Herunterklappen (zumindest gefühlt) gefährlich nahe. Auf Autobahnen ist das jedoch nicht weiter schlimm, da der Highway Drive Assist (HDA) gemeinsam mit diversen Spurhalte- und -wechselassistenten brav seinen Dienst versieht. Es gibt sogar die Möglichkeit, automatische Spurwechselvorschläge (als „laufende“ Pfeile) anzeigen zu lassen. All das wird dem Fahrer über ein Head up-Display direkt auf die Straße projiziert. Wer gerade Nackenprobleme hat, wird sich über die Totwinkel-Kamera freuen, deren Bild man beim Betätigen des Blinkers im Bildschirm hinterm Lenkrad sieht. Allerdings sollte man das unterstützte Fahren wirklich nur auf Autobahnen beschränken, denn auf Landstraßen hat uns die Tendenz zur Mittellinie, bisweilen auch die Vorliebe zur Abbiegespur, die eine oder andere Schrecksekunde beschert.

Geniale Beschleunigung

Genial ist hingegen – wie vermutet – die Beschleunigung. Gepaart mit einem knackig, sportlich austarierten Fahrwerk und einer ebensolchen Lenkung verwundert es, dass die Sitze eher wenig Seitenhalt bieten und mehr in die Kategorie Fauteuil fallen, also für unseren Geschmack viel zu weich sind. Wer es in 5,2 Sekunden von null auf hundert schafft, würde sich ein sportlicheres Gestühl wünschen. Andererseits würde man dadurch vielleicht noch öfter viel zu schnell fahren, denn gerade beim Überholen merkt man die Power der beiden Elektromotoren der Allradversion. Wer nicht aufpasst, kommt da rasch übers höchst zulässige Landstraßentempo.

Um ans Ziel zu kommen, empfiehlt es sich das Ganze ohne Bleifuß anzugehen und ausreichend Zeit einzuplanen. Eine unserer Testfahrten führte uns in die rund 200 km entfernte Oststeiermark. Mit einer Reichweite von ca. 500 km (WLTP, Herstellerangabe) sollte das kein Problem darstellen. Leider schafften wir bei winterlichen Temperaturen bei einer zu 100 Prozent vollgeladenen Batterie immer nur eine prognostizierte Reichweite von 290 km. So zeichnete sich dann bald ab, dass es eine Zitterpartie werden würde – denn geübte Elektrofahrer kennen die „Freuden“ besetzter oder nicht funktionierender Ladestationen – und so legten wir nach ca. 90 km bei 55 Prozent Akku-Kapazität einen taktischen Zwischenstopp ein. Da wir nicht ewig bleiben wollten, entschieden wir uns für 18 min Ladedauer bis zu 80 Prozent – einem durchaus annehmbaren Wert in der Praxis. (44 min hätte es bis 100 Prozent gedauert.)

Fazit

Der Kia EV6 teilt sich mit dem Hyundai IONIQ 5 zwar dieselbe E-GMP-Plattform, ist unserer Meinung nach aber der gelungenere Stromer. Kein Wunder, dass der Kia EV6 zum „Car of the Year 2022“ gekürt wurde und Kia bei Elektrofahrzeugen in Österreich einen Marktanteil von 16,5 % bis dato erreichen konnte. Mit dem EV6 ist es Kia erneut gelungen, ein hochwertiges Crossover (wahlweise als Heck- oder Allradantrieb) anzubieten, das mit Features brilliert, die man sonst nur bei Premiummarken findet. Dort muss man allerdings weit tiefer ins Börsel greifen.

Was uns gefällt:

  • das mutige, futuristische Design
  • die geniale Beschleunigungsleistung
  • die Darstellung des Head up-Displays

Was wir noch verbessern würden:

  • eine tiefere Sitzposition in festeren Sitzen ermöglichen
  • eine Spur weniger Berührungsempfindlichkeit für die Touch-Flächen
  • den Drang zur Mitte beim Spurhalteassistent reduzieren

Technische Daten: Kia EV6 GT-line 77,4 kWh Premium AWD

Motor/Antrieb

Motor: Elektromotor, 2x permanent erregte Synchronmaschinen
Leistung kW/PS: 73,9 +165,4 = 239,3 kW/100,5 + 224,9 = 325,4 PS
Drehmoment: 255 + 350 = 605 Nm
Antrieb: Allradantrieb
Getriebeart: Reduktionsgetriebe
0-100 km/h: 5,2 Sekunden
V-Max: 185 km/h

Verbrauch/Umwelt

Werksangabe – kombiniert: 17,2 – 18,4 kWh/100 km
Gas-Junky-Test – Durchschnitt: 26 kWh/100 km
Reichweite nach WLTP: 506 km
CO2 Emissionen: 0 g

Ladedauer (Herstellerangabe)

Haushaltssteckdose 230 V: 10 – 100 % Ladezustand: ca. 32:45 Std.
Wallbox 11 kW:
10 – 100 % Ladezustand: ca. 7:20 Std.
Gleichstrom-Schnelllader mit bis zu 50 kW: 10 – 80 % Ladezustand: ca. 73 Min.
Gleichstrom-Schnelllader mit bis zu 350 kW:
10 – 80 % Ladezustand: ca. 18 Min.

Fahrwerk/Reifen/Bremsen

Bremsen: VA + HA: Scheibenbremsen
Felgen/Reifen: 225/45 R17

Gewicht und Maße

Leergewicht: 2.091 kg
L/B/H: 4,695 /1,890 /1,550 m
Radstand: 2,900 m
Kofferraumvolumen: 520 – 1.300 Liter (+ 20 Liter vorne unter der Motorhaube im „Frunk“)

Preise

KIA EV6 Air zu haben ab: € 43.990,-
Kia EV6 GT-line AWD Premium: € 64.490,-
Preis Testfahrzeug inkl. NoVA und MWSt: € 65.240,-

Sonderausstattung:

Aurora black € 750,-

(c) Bilder: Gas Junky, sp & kg