Praxistest: Kia e-Niro –Vernunft kann so viel Spaß machen

Zugegeben: Anfangs war ich skeptisch. Als Pendlerin mit einem E-Auto beglückt zu werden, stellte mich schon vor die Frage, ob ich da viel testen können würde. Immerhin musste eine Strecke von insgesamt 150 Kilometer pro Tag bewältigt werden. Wenn ich da an Berichte über E-Autos denke, die eine Reichweite von 200 Kilometer angegeben haben, ein eher unrealistisches Unterfangen. Damit hatte ich E-Autos für mich schon wieder abgehakt – bis der Kia e-Niro mir zugeteilt wurde.

„Ja, wen hamma denn da?“

Von außen traf er – zumindest von vorne – nicht unbedingt meinen Geschmack. Während andere aufgrund der Optik des e-Niro in wahre Begeisterungsstürme ausbrachen, gehörte ich zu jener Gruppe, die seinen „Blick“ nicht sehr ansprechend fanden. Außerdem kommentierten Männer wie Frauen (ungefragt), dass ein Auto ohne Kühlergrill merkwürdig aussehen würde. Hier sollte sich Kia für zukünftige Modelle etwas anderes einfallen lassen. Andererseits: Man ist im Gespräch. Die derzeitige Lösung wirkt auf mich (zumindest in weißer Lackierung) fast ein wenig lieblos und passt keineswegs zum Rest des Autos.

Die Linienführung des kompakten SUV ist gelungen und sehr stimmig. Verchromte Elemente werden sparsam eingesetzt, sodass sie durchaus als Eye-Catcher wirken. Dachreling und Fenster-Applikationen sind in Silber gehalten, ebenso die Felgen, denen zusätzlich ein wenig Schwarz gegönnt wurde. Rund um die LED-Scheinwerfer verstärken farbliche Akzente in Türkis (vorne und hinten) das dynamische Erscheinungsbild. Öffnet man die Türen sieht man an den Einstiegsleisten den Schriftzug „niro“.

Schließt man die Fahrertür, begibt sich der mehrfach elektrisch verstellbare Sitz (inkl. Lordosenstütze) in die zuvor eingestellte Position. Das hat den Vorteil, dass man beim Verlassen des Fahrzeugs viel Platz zum Aussteigen hat. Gleichzeitig aber den Nachteil, dass man vor dem eigentlichen Start ein wenig warten muss, bis der Sitz wieder da ist, wo man ihn gerne hätte. Ungeduldige können diese Funktion aber auch deaktivieren. Die Sitze selbst sind schön designt, perfekt verarbeitet und bieten sehr guten Halt. Der Test-Niro in bester Ausstattungslinie war mit Ledersitzen ausgestattet, die nicht nur beheizt, sondern auch gekühlt werden können.

Durchgehend hochwertige Verarbeitung

Im Gegensatz zum Äußeren hat das Innere des e-Niro sofort überzeugt. Die verwendeten Materialen sind hochwertig und in deren Verarbeitung einwandfrei. Schön sind kleine Details, wie farblich (aufs Äußere) abgestimmte Ziernähte in Türkis an den Sitzen oder beim Lenkrad bzw. türkis umrahmte Luftauslässe am Armaturenbrett. Die Ambiente-Beleuchtung bietet neben Türkis von Rot über Gold noch weitere Farben. Gesteuert wird dies über das Infotainment-Display, das aufgrund der Handhabung eher nur im Stand verwendet werden sollte. Die Bedienung aller anderen Funktionen über diverse Knöpfe ist intuitiv möglich und es ist alles da, wo man es vermuten würde – bis auf den Schalthebel.

Auf einen solchen konnte beim Elektro-Kia (zugunsten einer zusätzlichen Ablagemöglichkeit an dieser Stelle) nämlich verzichtet werden. Stattdessen werden die Richtungsbewegungen über ein Wählrad gesteuert. Man gewöhnt sich relativ schnell daran und selbst bei rascherem Wechsel, wie beim Rangieren, zeigt sich diese Option als praxistauglich. Der e-Niro unterstützt einen im Retourgang auch mit automatisch nach unten schwenkenden Außenspiegeln (links wie rechts), einer Rückfahrkamera sowie akustischen Warntönen.

„… und wie fährt er sich?“

Aber Fahren wir erst einmal mit dem Blick nach vorne gerichtet los: Über den Schalter Drive Mode entscheidet man, wie effizient man unterwegs sein will. Dabei stehen die Fahrmodi ökonomisch, normal und dynamisch zur Auswahl. Die Reichweitenthematik im Kopf, wählte ich den ökonomischen Modus. Von anderen Autos wusste ich, dass dieser eng mit dem Faktor Lustlosigkeit verbandelt war. Nicht so im Kia: Der Biss und die Durchzugskraft waren trotzdem gegeben und auch ein Beschleunigen war problemlos möglich. Für alle, die noch nie in einem E-Auto gesessen sind: Es ist wirklich so cool, wie immer behauptet wird, wenn man aufs Gas steigt und das Auto wie ein Flugzeug vor dem Start dahinzischt. Manchmal auch mit quietschenden Reifen – aber es ist Sommer, mit Temperaturen zum Testzeitpunkt von über 30 Grad.

Das musste ich auch abseits meines üblichen Nachhausewegs probieren: Also runter von der Autobahn und ab auf die Landstraße. Hier kann der e-Niro seine Stärken erst so richtig ausspielen. Langsame Ausflügler vor einem? Kein Problem dank der bisher ungeahnten Beschleunigung. Kurvige Strecken, die man sonst lieber mit einem Motorrad bewältigen will? Bitte mehr davon! Der e-Niro liegt dank des tiefen Schwerpunkts (die Batterie ist besonders günstig verbaut) so gut in den Kurven, dass man das Gefühl hat, auf Schienen unterwegs zu sein. Diese beiden Eigenschaften gepaart auf Bergstraßen machen Serpentinen zu einem wahren Genuss!

Die Lenkung ist direkt, keinesfalls schwammig und auch der Spurhalteassistent versieht einen ausgezeichneten Dienst. Selten einen an Bord gehabt, der so sanft mitgelenkt hat, wenn man selbst ein wenig nachlässig geworden ist. Natürlich verleitet das auch dazu, ihn alleine werken zu lassen (wenn man z.B. das Infotainment-Display bedient), da wird man aber bald wieder über eine Meldung am Armaturenbrett daran erinnert, das Lenkrad bitte nicht loszulassen. Vorsicht ist auch bei Kollege Bleifuß geboten: In E-Autos erreicht man noch schneller als sonst die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit. Dank gut abgestimmter Bremsen ist man aber ebenso schnell wieder im Ruhemodus; bei einer vom Auto erkannten Vollbremsung auch mit eingeschalteter Warnblinkanlage.

Noch ein wichtiges Detail am Rande

Eigentlich müsste man im e-Niro, bis auf Notfälle. gar nicht bremsen. Mittels Lenkradpaddels kann nämlich die Intensität der zurückgewonnenen Bremsenergie gesteuert werden. Im Stadtverkehr macht es Sinn, die so genannte Rekuperation stärker zu nutzen. Bei Überlandfahrten kann man es gemächlicher angehen lassen und ist bei Bedarf mit weniger automatischer Verzögerung unterwegs. Hat man sich erst einmal daran gewöhnt, eine feine Sache. Stellenweise konnte ich wirklich auf das Bremspedal verzichten.

Wie ist das nun mit der Reichweite?

Voll geladen zeigt der e-Niro eine Reichweite von rund 420 km an. Diese variiert je nach gewähltem Fahrmodus und diversen Verbrauchern (wie Klimaanlage oder Radio). Alle dazu notwendigen Informationen sind jederzeit erkennbar und somit gibt es keine unliebsamen Überraschungen – zumindest nicht, was das Auto betrifft.

Sehr wohl hatten wir diese bei so machen Ladestationen. Gleich die erste von uns angesteuerte ermahnte uns, die Zündung des Fahrzeuges abzuschalten, um den Ladevorgang beginnen zu können. Das hatten wir zwar bereits getan, überprüften es aber trotzdem noch einmal: wieder erfolglos, also auf zur nächsten. Leider sind (Schnell-)Ladestationen noch nicht so dicht gesät, wie „normale“ Tankstellen. Daher sollte man wie auch bei Fahrzeugen mit herkömmlichen Verbrenner darauf achten, den „Tank“ niemals ganz leer zu fahren.

Aus diesem Grund sind wir im Echtbetrieb auch „nur“ etwas über 250 km gekommen, wohlgemerkt bei sommerlicher Außentemperatur auf der Langstrecke. Mit etwas mehr Mut wären sicher noch mehr Kilometer möglich gewesen. Wobei man am Rande erwähnen muss, dass die Chefredaktion zuvor im urbanen Bereich und teilweisen Autobahnfahrten die 300 Kilometer-Marke durchaus knacken konnte.
Für einen Ladevorgang an einer Schnellladestation sollten zwischen 1,5- und 2 Stunden eingeplant werden, um 80 bzw. 100 Prozent an Kapazität zu erreichen. Vergleicht man die von uns erzielte Reichweite mit den anfangs erwähnten 200 Kilometer, erkennt man, dass E-Autos mittlerweile auf dem Weg zur Alltagstauglichkeit sind.

Fazit

Der Kia e-Niro ist ein hochwertig verarbeitetes Kompakt-SUV, mit dem man auch gerne mal länger als nötig unterwegs ist – und es aufgrund der Reichweite auch sein kann. Die Ergonomie der Sitze ist top. Fahrleistungen und Straßenlage suchen ihresgleichen, werden dies bei einem vergleichsweise günstigen Einstiegspreis in die E-Mobilität mit 37.990 Euro aber nur schwer finden. Für Pendler wäre es optimal, sowohl an der Arbeitsstätte als auch zu Hause oder zumindest an einem Ort, an dem man sich länger aufhält, eine (Schnell-)Ladestation bzw. Wallbox verfügbar zu haben.

Was uns gefällt:

  • der hochwertig verarbeitete Innenraum
  • die praktische Platzierung der Ladeöffnung an der Fahrzeugfront (und nicht seitlich)
  • die traumhaft guten Fahreigenschaften des Fronttrieblers

Was wir noch verbessern würden:

  • Bedienbarkeit des Infotainment-Displays
  • eine elektrisch gesteuerte Heckklappe wäre schön
  • Ladestationen (aber dafür kann Kia nichts)

Technische Daten:
Kia e-Niro Platin Long Range

Motor/Antrieb

Motor: Elektromotor, Batteriekapazität 64 kWh
Leistung kW/PS: 150 kW/204 PS
Drehmoment: 395 Nm bei 0 – 3.600 U/min.
Antrieb: Frontantrieb
Getriebeart: Automatikgetriebe (Reduktionsgetriebe)
0-100 km/h: 7,8 Sekunden
V-Max: 167 km/h

Verbrauch/Umwelt

Werksangabe – kombiniert: 15,9 kWh/100 km
Gas-Junky-Test – Durchschnitt: ca. 16 kWh/100 km
Reichweite nach WLTP: 455 km (615 km im City-Zyklus)
CO2 Emissionen: 0 g

Ladedauer

Haushaltssteckdose 230 V, 2,3 kW (Ladezeit bis 100 %): 31 Stunden
Wallbox, 7,2 kW (Ladezeit bis 100 %): 9,35 Stunden
Gleichstrom-Schnellader, 50 kW (Ladezeit bis 80 %): ca. 75 Minuten
Gleichstrom-Schnellader, 100 kW (Ladezeit bis 80%): ca. 54 Minuten

Fahrwerk/Reifen/Bremsen

Vo. Achse: Einzelradaufhängung, McPherson
Hi. Achse: Mehrlenkerachse
Bremsen: VA + HA: Scheibenbremsen (vorne innenbelüftet)
Felgen/Reifen: 17“ 7 J / 215/55R17 94W

Gewicht und Maße

Leergewicht: 1.737 – 1.791 kg
L/B/H: 4,375 /1,805/1,560 – 1,570 m
Radstand: 2,700 m
Wendekreis: 5,3 m
Kofferraumvolumen: 451 – 1.405 Liter

Preise

Kia e-Niro zu haben ab: € 37.990
Kia e-Niro Platin Long Range zu haben ab: € 49.590,-
Preis Testfahrzeug inkl. NoVA und MWSt: € 50.790,-

Sonderausstattung

Schiebedach € 500,-
Pearl-Lackierung € 700,-

(c) Bilder: Gas Junky, sp