Polestar 4 Long Range Single Motor im Test: Technik overhyped

Polestar ist bekannt für minimalistisches Design, sportliche Fahreigenschaften und zukunftsorientierte Technik. Im Falle des neuen Polestar 4 lehnt sich der Hersteller etwas weit aus dem Fenster, sodass man auf die Heckscheibe verzichtet und stattdessen das Blechkleid schließt. Für den Blick nach hinten hilft ein digitaler Rückspiegel.
Kann die Technik des schwedischen Chinesen im Alltag überzeugen oder wirkt dieser Technik-Hype zu überladen?

Interieur: Jede Menge Technik, die nicht immer auf Anhieb alle Stückerl spielt

Bereits bei der ersten Begegnung fällt auf, dass der Smart-Key zwar schlüssellosen Zugang ermöglicht, aber über keine Tasten verfügt.
Der Technik-Hype geht weiter – die Außenspiegel als auch das Volant können nur über das Mitteldisplay über die Lenkradtasten verstellt werden. Oder das Handschuhfach kann ebenso nur mittels Touchbefehl entriegelt werden. Der Frunk hingegen manuell. Blöd wenn das Display mal ausfällt oder die Lenkradtasten streiken.
Dass teilweise während der Fahrt die Materialien knarren – besonders an kälteren Tagen, wenn man die Heizfunktion aktiviert – vermisst man ein wenig den Premium-Anspruch. Apropos: Teilweise dauert es leider sehr lange bis die Klimaautomatik den Innenraum auf die gewünschte Temperatur bringt. Vor der morgendlichen Ausfahrt kann mittels Timer das Cockpit vortemperiert werden.
Kommen wir zurück zur fehlenden Heckscheibe. Diese erinnert ein wenig an einen limitierten Sportwagen aus Maranello, dieser verfügt über ähnliche Technik beim Blick in den Rückspiegel.
Es dauert eben ein paar Fahrten bis man sich daran gewöhnt – besonders Brillenträger wird es problematisch, da für diese der Spiegel viel zu nahe angebracht ist und das menschliche Auge das Bild nicht oder sehr schlecht wahrnehmen kann. Selbst optional kann man den Polestar 4 mit Heckscheibe nicht bestellen, denn dieses Feature zeichnet das neue Modell eben aus.
Deutlich positiver können wir über die Raumverhältnisse in beiden Reihen berichten. Selbst großgewachsene Passagiere werden sich auf der Rückbank sehr wohlfühlen, da hier sowohl die Kopf- und Beinfreiheit überzeugen. Auch das Kofferraumvolumen ist mit 526 Liter in der Basis recht luftig gestaltet, nach umlegen der Rückbank sind es sogar 1.536 Liter, die den Polestar 4 in einen Lademeister verwandeln.

Fahrverhalten und Lade-Management: Performance-orientierte Abstimmung mit Technik-Patzern

In der getesteten Long Range Single Motor Version leistet das Fahrzeug 200 kW / 272 PS und 343 Nm. Diese Power wird aus einem Elektromotor an der Hinterachse an deren Räder weitergeleitet. Der Sprint auf Tempo einhundert gelingt in nur 7,1 Sekunden und der Top-Speed lieg bei 200 Sachen. Trotz der rund 2,2 Tonnen ist man in der Single Motor Version ausreichend motorisiert und verfügt über eine durchaus sportliche Abstimmung. Die Lenkung kann je nach Bedarf in der Straffheit geschärft oder gemildert werden, auch bei der Energie-Rückgewinnung gelingt eine stufenweise Regelung, bis hin zum One-Pedal-Feeling.
Weniger Lob gebührt der Vorkonditionierung des Akkus. Ein Feature, welches gerade bei winterlichen Außentemperaturen für deutliche Unterschiede bei der Ladeleistung sorgt. Diese Funktion ist in die Routenplanung mit Ladeplanung integriert, eine manuelle Aktivierung ist hier leider nicht möglich. Daher sollte man Ladesäulen in der Nähe im Winter wohl eher meiden, denn die Batterie ist meist noch kalt und damit können Ladeleistungen von den Herstellerangaben recht deutlich abweichen – maximal zwischen 80-110 kW haben wir in unserem Test erreicht. Polestar gibt für das Akku-Paket mit 100 kWh (netto 94 kWh) bis zu 200 kW an. Demnach wird auch die Ladedauer beinahe verdoppelt.
Der durchschnittliche Verbrauch des Polestar 4 Long Range Single Motor beläuft sich in unserem Praxistest auf 24,5 kWh pro 100 Kilometer.
Damit sind rund 345 Kilometer im Drittelmix realistisch, wenn man mit einem vollen Akkupaket bei 10 Prozent die nächste Ladestation ansteuert.
Ein ausquetschen der Strom-Reserve macht keinen Sinn und schadet meist auch der Technik. Im Falle des Polestar 4 reduziert das Fahrzeug danach auch die Leistungsabgabe recht vehement, das ist in unserem Fall auf der A5 im Zuge einer Steigung ein bitterer Beigeschmack für ein Performance orientiertes Fahrzeug, das Tempo fällt hierbei von 130 auf lahme 100 km/h runter.
Dass die Matrix-LED Scheinwerfer ein Lichtspiel projizieren bzw. den Gegenverkehr blenden und man täglich mit Lichthupe abgemahnt wird, das sollte nicht an der Tagesordnung eines technikorientierten Fahrzeugs stehen. Polestar spricht hier von einem Einzelfall bei unserem Testwagen.
Im aktuellen Test mit dem Polestar 3 funktioniert diese Funktion um Welten besser, daher können wir dies auch befürworten.
Es werden laufend Technik-Neuheiten via Over the Air Updates eingespielt – demnach werden wir den Polestar 4 zu einem späteren Zeitpunkt nochmals unter die Lupe nehmen. Die Performance-Eigenschaften, welche man von der schwedischen Marke kennt, die täuschen auch im Falle des Polestar 4 keinesfalls. Sehr erfreulich wirkt jedenfalls, dass man sich mit der Single Motor Version keinesfalls untermotorisier fühlt, ganz im Gegenteil.

Unser Fa(hr)zit:

Der Polestar 4 Longe Range Single Motor kann mit sportlichem Fahrverhalten überzeugen. Die Raumverhältnisse sind fürstlich und sorgen selbst für großgewachsene Passagiere selbst in zweiter Reihe einladend. Wichtige Funktionen in das Display zu integrieren wirkt dann doch Technik overhyped. Dass der Akku nur über die Navigation vorkonditioniert werden kann sorgt für eine deutlich reduzierte Ladeleistung. Mit ein paar Over the Air Updates wird das umfangreiche Technik-Paket laufend verbessert.

Was uns gefällt:

  • Die großzügigen Raumverhältnisse
  • Das sportliche Fahrverhalten bereits in der Single Motor Version
  • Der Blickfang im Straßenbild
  • Die stufenweise Einstellung der Energie-Rückgewinnung

Was wir noch verbessern würden:

  • Eine manuelle Funktion für die Akku-Vorkonditionierung
  • Tasten für die Einstellung von Außenspiegel und Volant
  • Das knarren von Interieur-Materialien
  • Die maximale Ladeleistung bei winterlichen Temperaturen
  • Den enormen Leistungsverlust unter 10 Prozent Akku-Kapazität

Factbox: Polestar 4 Long Range Single Motor

Motor/Antrieb

Motor/Akku: Permanentmagnetmotor, Batteriekapazität 100 kWh (netto 94 kWh)
Leistung kW/PS: 200 kW/ 272 PS
Drehmoment:  343 Nm
Antrieb: Heck
Getriebeart: 1-Gang-Automatik
0-100 km/h:  7,1 Sekunden
V-Max:  200 km/h

Verbrauch/Umwelt

Werksangabe – kombiniert:  17,8-18,1 kWh/100 km
Gas-Junky-Test – Durchschnitt:  24,5 kWh/ 100 km
Reichweite nach WLTP:  bis zu 620 km (WLTP)

Ladedauer

Wallbox, 11 kW (Ladezeit 0 bis 100 %): 5,5 Stunden
Gleichstrom-Schnellader (Ladezeit 10-80%): 30 Minuten

Bremsen/Reifen/Felgen

Bremsen: VA: belüftete Scheibenbremsen HA: belüftete Scheibenbremsen
Felgen/Reifen: 255/50 R 20

Gewicht und Maße

Leergewicht: 2.230 kg
L/B/H: 4,840m /2,139 m / 1,534 m
Radstand:  2,999 m
Kofferraumvolumen: 526-1.536 Liter, Frunk 15 Liter

Preise

Polestar 4 zu haben ab: € 59.990
Preis Testwagen inkl. Steuern: € 70.800

Sonderausstattung:

Pilot-Paket € 1.500
Plus-Paket € 5.500
AC-Ladekabel € 200
Metallic-Lackierung in Electron € 1.300
Sichtschutzglas hinten € 500
Elektrochromes Panorama-Glasdach € 1.900

(c) Bilder: Sebastian Poppe